Pflegeheime gehen in Vorleistung: Wenn Sozialhilfe auf sich warten lässt

Pflegeeinrichtungen geraten zunehmend unter finanziellen Druck. Die lange Bearbeitungszeit von Sozialhilfeanträgen führt dazu, dass Rechnungen oft monatelang unbezahlt bleiben. Auf einer Fachtagung in Stuttgart haben Heimträger Lösungsansätze diskutiert: Mehr Vorsorge in Eigenverantwortung, frühzeitige Aufklärung für Betroffene, effizientere Verfahren auf kommunaler Ebene und Verlagerung der Liquiditätsrisiken von Heimen auf die öffentliche Hand.

Das Wohnen im Pflegeheim ist teuer. Gesetzliche Vorgaben zum Personalschlüssel, tarifgebundene Gehälter, gestiegene Lebensmittel- und Energiekosten lassen den Eigenanteil immer weiter steigen. Die hohe Quote der Sozialhilfeempfänger unter Heimbewohnern überrascht daher nicht. Problematisch für die Anbieter ist die Dauer bis zum Geldeingang. Sozialämter brauchen für die Vermögensprüfung der Betroffenen in der Regel über ein halbes Jahr. „Es geht um die Finanzierung einer erbrachten Leistung, für die wir unser Personal entlohnt haben, lange bevor der Sozialhilfeträger die Antragsprüfung abgeschlossen hat. Kurz: Wir gehen hier extrem in Vorleistung“ erläutert Ingrid Hastedt, Vorstandsvorsitzende des Wohlfahrtswerks für Baden-Württemberg.

Für einen Antrag auf Hilfe zur Pflege beim Sozialamt müssen Angehörige oder gesetzliche Betreuer Unterlagen zusammentragen. Wer bei der Haushaltsauflösung nach Heimeinzug die alten Sparbücher wegwirft kann bereits ein Problem haben. Es fehlt in Deutschland am nötigen Wissen, welche Informationen bei einer Vermögensprüfung vorzulegen sind. Und damit an der nötigen Vorsorge, wie sie bei Patientenverfügung oder testamentarischen Festlegungen bereits gehandhabt wird. „Aufklärung ist nötig. Solange es keine deutlichen Verbesserungen bei der Pflegeversicherung gibt, zehrt der Eigenanteil das Vermögen schnell auf, wenn die eigene Rente nicht üppig ist“, erläutert Ingrid Hastedt. 

Zudem leben in Pflegeheimen heute rund 70 Prozent Menschen mit Demenz. Sie können keine Hinweise mehr geben, wo benötigte Unterlagen für einen Sozialhilfeantrag zu finden sind. Angehörige sind dann herausgefordert, die Nachweise zusammenzutragen. Fehlt etwas, verzögert es sich, bis einem Antrag stattgegeben werden kann. Weitere offene Rechnungen stapeln sich. Erst recht, wenn wegen langwierigen Verfahren zur Bestellung eines gesetzlichen Betreuers ein Ansprechpartner fehlt.  

Ohne einen Cent Taschengeld
Was nach einem bürokratischen Dilemma für die Pflegeeinrichtungen klingt, hat ganz praktische Auswirkungen für betroffene Bewohner: Solange keine Sozialhilfe eingeht, fehlt auch ein Taschengeld für private Ausgaben wie Friseurbesuch oder ein Stück Kuchen in der Cafeteria. Bewohner verlieren Gestaltungsspielraum und sind auf Gaben von An- und Zugehörigen angewiesen.

Letzter Ausweg: Kündigung
Eine Heimvertragskündigung ist bei offenen Rechnungen zwar möglich, aber keine wirkliche Lösung: Pflegebedürftige sind dadurch von Wohnungslosigkeit bedroht, Auffang-Einrichtungen fehlen. Wird tatsächlich eine Kündigung ausgesprochen, beschleunigt sich die Gewährung der Sozialhilfe erfahrungsgemäß, der Fall gewinnt in den Ämtern an Dringlichkeit. „Wir fordern die Arbeitsfähigkeit der Sozialämter trotz dünner Personaldecke – so wie unsere Heime die pflegerische Versorgung trotz Fachkräftemangel leisten müssen“, so Hastedt. Drohende Wohnungslosigkeit sollte in den Behörden nicht erst nach Vertragskündigung zu Priorisierung der Fallbearbeitung führen. 

Kommunen müssen aktiv werden
Der Zeitaufwand für lokale Lösungen überfordert die Verwaltungskräfte der Heime: Sie haben täglich mit Anforderungen verschiedener Landkreise zu tun. Sie leisten Detektivarbeit auch wegen der Dreiecksbeziehung zwischen Pflegekassenleistung, Eigenanteil und Sozialhilfe. Fehlende Erreichbarkeit von Sachbearbeitern in Sozialämtern führt zu vielen Nachfragen der Angehörigen in den Heimverwaltungen. Die Außenstände durch offene Sozialhilfeanträge belasten die Liquidität von Pflegeheimen. „Es braucht den Dialog mit den Stadt- und Landkreisen für Zwischenlösungen wie zum Beispiel Abschlagszahlungen an die Pflegeheime. Das kann aber nur ein erster Schritt sein“, formuliert Hastedt einen möglichen Ansatzpunkt. Bundeseinheitliche Regelungen findet sie unumgänglich: Statt den Pflegeheimen Detektivarbeit aufzubürden sollte die nächste Pflegereform eine Verzahnung zwischen Pflegeversicherungsrecht und Sozialhilferecht vorsehen. Doch bis eine große Pflegereform zu Änderungen an der Sozialgesetzgebung führt, wird es noch dauern. Bis dahin braucht es kurzfristige Maßnahmen, damit die Pflegeeinrichtungen für ihre erbrachten Leistungen bezahlt werden, so Hastedt abschließend. 

Fachtagung belegt Dringlichkeit
Über das Thema „Sozialhilfebedarf – eine systemische Überforderung für Pflegeheime“ diskutierten Fachleute aus der Pflegepraxis im Rahmen der diesjährigen Fachtagung des Wohlfahrtswerks für Baden-Württemberg am 23. Juli in Stuttgart. 

„Es zeigt sich, dass die Bearbeitungsdauer der Anträge auf Hilfe zur Pflege bei allen Anbietern ein bekanntes und dringliches Problem darstellt. Wir brauchen Änderungen im System. Es kann doch nicht von der Kooperationsbereitschaft einzelner Sozialämter abhängen, ob Heime die Liquidität für die Gehaltsauszahlung an ihre Pflegekräfte haben. Oder dass Pflegeheime leere Kassen haben, weil gesetzliche Betreuer fehlen, die sich kümmern. Auch dass Angehörige nicht früh genug wissen, welche Unterlagen sie beizubringen haben, muss aufhören. Die öffentliche Hand sollte Abschlagszahlungen leisten und wo nötig selbst bei Angehörigen Regress nehmen statt alle finanziellen Risiken bei den Heimen zu verorten“ fasst Ingrid Hastedt, Vorstandsvorsitzende des Wohlfahrtswerks für Baden-Württemberg die Ergebnisse der Tagung zusammen.

Fotos: Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg

Bildunterschriften:
Ein Friseurbesuch im Pflegeheim wird zum Luxus, solange der Antrag auf Sozialhilfe nicht bearbeitet ist.
Ein Stück Torte in der Cafeteria? Nicht mehr drin…

Das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg
Das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg ist eine Stiftung des bürgerlichen Rechts. Einrichtungen und Dienste an 19 Standorten bieten Betreuung bei Demenz, Hilfe nach Krankenhausaufenthalt, Alltagsbegleitung und Pflege – zu Hause, in der Tagesgruppe, im Seniorenwohnen, in der Kurzzeitpflege oder im Pflegeheim. 

Ihr Kontakt

Sonja John

Das könnte Sie auch interessieren

Pressebilder

weiterlesen

Hintergrundinformationen

weiterlesen

Innovation & Projekte

weiterlesen